1. Juni 2023
Ein Gastbeitrag von Tia Heuboden
Unsere Krankenhaus- und Notfallversorgung wird reformiert. Die jetzige Version dieser Reform bezeichnete unser Gesundheitsminister Karl Lauterbach als „Revolution“. Betroffene Praxisärzte und deren Verbände üben jedoch scharfe Kritik: Für die Umsetzung müssten in Folge ca. 600 Praxen täglich (!) schließen. Dies würde zu massiven Einschnitten in der ambulanten medizinischen Versorgung führen.
Noch gibt es verschiedene, wesentliche Säulen und Zugänge unserer Notfallversorgung. Im medizinischen Notfall können wir uns derzeit an folgende Stellen wenden:
an unsere ambulanten Haus- und Fachärzte
an ärztliche Bereitschaftspraxen
an die Notfallnummern 112 oder 116 117 (letzterer ist der ärztliche Bereitschaftsdienst)
oder man begibt sich direkt in die Notaufnahme einer Klinik.
Nach der „Revolution“ wird es folgendermaßen aussehen:
Man ruft eine integrierte Leitstelle an (112 und 116 117 werden zusammengeführt)
Dort wird man durch nicht-ärztliches, medizinisches Personal telefonisch oder auch telemedizinisch beraten (Achtung: Warteschleife ...)
Man wird zu einer passenden Anlaufstelle gesteuert.
Diese Steuerung erfolgt mit Hilfe von softwaregesteuerten Einschätzungsverfahren.
Für „echte“ Notfälle werden neue integrierte Notfallzentren (INZ) installiert.
Dort geht man zu „Tresen“, deren Mitarbeiter entscheiden wo man behandelt wird: entweder in der Notaufnahme der Klinik oder in neu geschaffenen, dort angegliederten Bereitschaftspraxen.
In den integrierten Notfallzentren sollen dann die ambulanten Praxisärzte zusätzlichen Bereitschaftsdienst absolvieren und dafür stundenweise ihre Praxen schließen.
Folgen der „Revolution“ aus Sicht der Praxisärzte:
600 Vertragsarztpraxen (= unsere Hausärzte und internistische sowie chirurgische Fachärzte) müssten täglich geschlossen werden (1)
Damit würden 4 Millionen Patientenkontakte jährlich in den ambulanten Praxen wegfallen.
3 Millionen zusätzliche Patientenkontakte müssten dann durch andere Praxen oder die INZ versorgt werden
(Diese Schätzwerte stammen vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (ZI)) (1)
Darüber hinaus nennen die ärztlichen Experten weitere Folgeprobleme:
Es wird zu noch deutlich längeren Wartezeiten in den Praxen kommen.
Die Attraktivität der Niederlassungen für die Ärzte wird sinken (2).
Die flächendeckende Versorgung mit Notärzten wird gefährdet (3).
Wie die Lauterbach´sche „Revolution“ umgesetzt werden kann, bleibt wegen der ungeklärten Frage nach den Fachkräften, die diese Revolution voranbringen sollen ein Rätsel (2).
Auch die Finanzierung dieser „ineffektiven Doppelstruktur“ soll noch ungelöst sein. Auf der VV (Vertreterversammlung) der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns wurde dieses Reformvorhaben der Regierungskommission einstimmig abgelehnt (3).
KBV-Vize Hofmeister führt als weitere Schätzungen des ZI an, dass bis zu 1 Millionen zusätzliche Patienten in den Notaufnahmen behandelt werden müssten und diese zusätzlich belasten (4).
Folgen der „Revolution“ aus Sicht der Rettungsdienste
Die angestrebte Klinikreform des Gesundheitsministeriums wird zu einem Abbau der Kliniken mit Notfallversorgung vor allem im ländlichen Bereich führen. Die Wegstrecken zu den Notaufnahmen/Notfallzentren werden dadurch deutlich länger (z.B. lt. Kevin Grigorien von den Johannitern (5)).
Hinzu kommen mögliche zusätzliche Verzögerungen durch Verkehrsstaus oder anderweitige „Blockaden“.
Folgen der „Revolution“ aus Sicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft
Die Deutsche Krankenhausgesellschaft sowie der Verband der Universitätsklinika Deutschland unterstützen die Reform weitgehend (6)
Am 25.05.23 wurde darüber hinaus bekannt gegeben, dass „die Ampel“ kurzfristig ihren Antrag geändert hat. Falls festgestellt wird, dass es sich nicht um einen Notfall handelt, dürfen die Patienten nicht mehr in eine Vertragsarztpraxis weitergeleitet werden. Diese sollen dann im Krankenhaus und in den dort neu angesiedelten Bereitschaftspraxen versorgt werden (7).
Der Bundestag bzw. Ampel hat dann am 26.5. dies beschlossen (9).
ZI-Chef von Stillfried fasst zusammen:
„Leider hat der Gesundheitsausschuss Fakten geschaffen, die Fortschritte bei der Verbesserung der Notfallversorgung …. erschweren. Damit wird eine vorausschauende Gesundheitspolitik ad absurdum geführt“
zum Nachteil der Notfallversorgung von 73 Mill. Bundesbürgern (8).
Im Ärzteblatt können wir zusammenfassend lesen,
“dass (dies) nur funktionieren könne, wenn massenhaft Praxen dicht machen“.
Nicola Buhlinger-Göpfarth (stellvertretende Bundesvorsitzende des Deutschen Hausärzteverbandes) verweist auf die dazu fehlenden Ärzte (7).Sie beschreibt das Vorhaben als
„Ausbluten der ambulanten Strukturen“
Was bedeutet die neue „Revolution“ der Notfallversorgung für uns persönlich?
Die Notfallreform birgt viele offene Fragen:
Wer vertritt unsere Interessen als Patient/-innen?
Welche Abgeordneten werden sich für die Praxisärzte einsetzen?
Wer wird sich um uns kümmern (Stichwort: Fachkräftemangel)?
Haben wir nach der „Revolution“ womöglich eine prekäre medizinische Versorgung?
Tia Heuboden ist Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin. Sie schreibt unter einem Pseudonym.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder. Unterschiedliche Beiträge tragen zur Diskussion bei und sind deshalb für unsere Demokratie besonders wertvoll.
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Quellen:
Aktuelle Zi-Berechnungen zum Vorschlag der Regierungskommission, Integrierte Notfallzentren an Krankenhäusern der höchsten Notfallstufen einzurichten (ZI Zentralinstitut kassenärztliche Versorgung 04.05.23)
Integrierte Notfallzentren könnten Kapazitäten in der ambulanten Versorgung verknappen (aerzteblatt vom 04.05.23)
Pläne für die Notfallversorgung stoßen weiter auf harte Kritik (aerzteblatt vom 16.02.23)1.
Niedergelassene an Reformen beteiligen (KVB Forum 5-6/2023) KBV-Vize KBV-Vize Hofmeister plädiert für stärkere Patientensteuerung (aerzteblatt vom 15.05.23)
Johanniter zu den Vorschlägen zur Reform der Notfallversorgung (johanniter.de vom 14.03.23)
Vorschläge zur Notfallreform: Kritik von Niedergelassenen, Lob von Kassen und Unikliniken (aerzteblatt vom 13.02.23)
Notfallversorgung: Ampel nimmt Vertragsärzte und MVZ aus dem Ring (aerzteblatt.de vom 25.05.23)
Zentralinstitut für die Kassenärztliche Versorgung (vom 25.05.23) auf Twitter
Gesetzesänderung bei Notfallversorgung sorgt für Debatte (aerzteblatt.de vom 26.05.23)
Bild: Wix
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