13. Juli 2023
Ein Gastbeitrag von Tia Heuboden
Verfall des rationalen Umgangs mit Medikamenten
Seit vielen Monaten können wir Verfallserscheinungen bezüglich unserer Versorgung und des Umgangs mit Medikamenten beobachten. So gibt es einen massiven Arzneimittel-Notstand. Es gibt aber auch inadäquates Monitoring von Multimedikation sowie die Verschreibung von Medikamenten ohne nachweisbaren Zusatznutzen. In vielen Fällen fehlt zudem eine realitätsgerechte Aufklärung der Patienten über Risiken- und Nebenwirkungen.
Problem Arzneimittel-Notstand
Wichtige - auch lebensnotwendige - Medikamente können teils nicht geliefert werden. Kinderärzte befürchten auch im kommenden Herbst 2023 einen erneuten Notstand.
Im April 2023 berichtete das Handelsblatt von 460 Medikamenten, die nicht vorrätig sind (1). Viele Patienten, Ärzte sowie Apotheker waren deswegen sehr belastet. Auch Notfall-Medikamente zu organisieren bedeutet einen erheblichen Mehraufwand sowie bei Nichtgelingen zusätzliche stationäre Behandlungen (2).
Problem Mulitmedikation (Polypharmazie)
Besonders ältere Menschen mit mehreren Vorerkrankungen bekommen sehr viele Medikamente. Hieraus können sich unkalkulierbare und gefährliche Wechselwirkungen ergeben. Multimedikation bedarf einer sehr genauen Analyse und Beobachtung. Der aktuelle Bedarf der Medikation muss situations- und patientengerecht angepaßt werden. Bei mangelhafter ärztlicher sowie pflegerischer Betreuung kann bei nicht angepasster Medikation an den aktuellen Bedarf dies zu schweren Schäden führen. Viele der Medikamente werden zudem ohne Beleg für einen Zusatznutzen verschrieben. Fast 10.000 Menschen sterben jährlich auf Grund von Multimedikation und mangelnder Kontrolle
(3, 4).
Problem Medikation ohne Evidenz und Aufklärung
Ein anderes Problem ist der Einsatz von Medikamenten ohne Evidenz belegten Nutzen: Pubertätsblocker wurden beispielsweise ohne Evidenz vom Familienministerium empfohlen (5). Die viel beschworene wichtige Patientenaufklärung wird zudem nicht adäquat umgesetzt: So wird beispielsweise die Bedeutung von „sicher“ und „wirksam“ nicht realitätsgerecht vermittelt.
Medikamenten-Notstand - ein hausgemachtes Problem
Im April 2023 berichtete das Handelsblatt von 460 Medikamenten, die nicht vorrätig sind (1). Die Probleme waren hausgemacht und vorhersehbar.
Lieferkettenprobleme & Abhängigkeit von Auslandsproduktion
Seit 2020 wissen wir, dass die Lieferketten für lebenswichtige Medikamente (Schmerzmittel, Antibiotika, Fiebermittel, Asthma- sowie Krebsmedikamente) gestört sind. Ungefähr 80 Prozent der Wirkstoffe unserer Medikamente – insbesondere der günstigen Generika – werden mittlerweile in Asien hergestellt, insbesondere in China und Indien (6).
Zusätzlich werden als Gründe der Engpässe auch beispielsweise medial gehypte Medikation genannt: aktuell wird ein Diabetesmedikament als Methode zur Gewichtsreduktion medial gepusht, Engpässe für die wichtige Versorgung von Diabetikern sind vorprogrammiert (7).
Fragwürdige Maßnahmen gegen Medikation-Engpässe
Jetzt erhielt der Verfall unseres medikamentösen Versorgungssystems eine Art Kosmetik:
Lauterbachs Gesetzesentwurf vom 5.04.23 bezüglich der Lieferengpässe und Versorgungsverbesserung (AlBVVG) wurde aktuell im Bundestag beraten. Tagesschau.de beschreibt den Entwurf als ein „hektisch verfasstes Eckpunktepapier“ (8). Darin enthalten sind u.a. die Verordnung, dass die Pharmaindustrie für bestimmte Arzneimittel (z.B. Kinderarzneimittel) einen bis zu 50 Prozent höheren Betrag als den letzten Festbetrag verlangen darf. Dafür besteht die Verpflichtung für pharmazeutische Unternehmer lang rabattierte Medikamente drei Monate vorrätig zu halten. Dies gilt allerdings nur für z.B. Antibiotika, nicht aber für Krebsmedikamente. Laut Bundesgesundheitsminister Lauterbach können „bis dahin .. Krebsmedikamente knapp bleiben“ (9).
Eine weitere mögliche Problemlösung wäre es, im Inland wieder mehr Medikamente produzieren zu lassen. Dies will der französische Präsident Macron für Frankreich umsetzen. Wahrscheinlich werden jedoch die Wirkstoffe für die weitere Verarbeitung weiter in China produziert (10).
Die vom deutschen Bundesaußenministerium angestrebte Unabhängigkeit von China bleibt auch in diesem Zusammenhang unrealistisch.
Folgen aus Sicht der Ärzte:
So sieht der Verbandspräsident der Kinderärzte Thomas Fischbach die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen weiter nachhaltig gefährdet. Fischbach hält auch die Versorgung im kommenden Herbst für völlig ungesichert (11).
Auch Notlösungen wie die Behandlung mit einem Reserveantibiotika werden als Abweichung „vom rationalen Umgang“ bezeichnet (Dr. Hubmann aus dem Fachausschuss Hausärzte KVB) (12).
Da Krebsmedikamente (Onkologika) bei den Regelungen fehlen ist der Entwurf aus der Sicht der Onkologen „unverständlich“ und führe zu einem „Vertrauensverlust“ (13).
Folgen aus Sicht der Datenanalysten:
Laut Gesundheitsökonom Professor Afschin Gandjour verhindert die Lagerpflicht nur 40-50 Prozent der Lieferengpässe (über alle Medikamentengruppen). Bei Krebsmedikamente sind es nur 30-40 Prozent (14). David Francas - Professor für Daten- und Lieferkettenanalysen - hält es für „unrealistisch“ die Wirkstoffproduktion wieder nach Deutschland zurückholen zu können (9).
Folgen aus Sicht der Kostenträger und Kassen:
Der GKV-Spitzenverband (gesetzliche Kassenversicherungen) sieht Veränderungen der Festbeträge und Rabattverträge als ungeeignete Maßnahmen. Der GKV Verband führt hierzu Länder an, bei denen Engpässe trotz fehlender Festbeträge und Rabattverträge bestehen (15).
Folgen aus Sicht der Apotheker:
Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände sieht in dem „Sparwahn“ der Politik sowie Krankenkassen eine Hauptursache der Lieferengpässe. Diese hätten zu enormer Mehrarbeit bei parallel stattgefundenen Honorarkürzungen geführt. Zudem leide ihre Branche über „schwerwiegenden Nachwuchs- und Personalmangel“ (16).
Folgen aus Sicht der Pharmaindustrie:
Selbst Vertreter der Pharmaverbände (z.B. Bretthauer) sehen die Regelung sehr kritisch und warnen vor Kostensteigerungen. Derzeit seien Arzneimittel von 2 Milliarden Euro eingelagert. Jedoch nur 1 Prozent der Arzneimittel sind von der Regelung betroffen. Vertreter der Pharmaindustrie wie Bretthauer glauben nicht daran, dass die Produktion wegen der Gesetzesänderung nach Europa zurückkehrt (17).
Folgen aus Sicht der Patienten:
Nötige Medikamente sollten vermutlich insbesondere für den Herbst gehortet werden. Die Kassenbeiträge werden steigen. Ältere Menschen mit mehreren Vorerkrankungen müssen schwere Schäden oder sogar den Tod durch unsachgemäßes Monitoring der Polypharmazie befürchten. Die Patientenaufklärung basiert häufig nicht auf den Erkenntnissen der evidenzbasierten Medizin. Pauschale Aussagen wie „ist sicher und wirksam“ entsprechen nicht der Wirklichkeit. So gibt es kein Medikament oder keinen Wirkstoff, der nicht differenziert betrachtet werden sollte und der nicht individuelle Nutzen-Risiko Profile hat.
Darüber hinaus ist nicht nur die Medikamentenversorgung, sondern auch die Qualität anderer Behandlungen gefährdet:
So existiert seit 2019 eine G-BA Verfahrensänderung (gemeinsamer Bundesausschuss) durch das Bundesgesundheitsministerium, die laut AOK-Bundesverband dazu führt, dass der G-BA bei der Bewertung neuer medizinischer Methoden Studien ohne Evidenz einbezieht (AOK). Mit der neuen Verordnung wurden Grundsätze der evidenzbasierten Medizin ad acta gelegt. Der AOK Bundesvorstand sieht als „Nutznießer primär die Wirtschaft“ verbunden mit „höheren Risiken für Patienten“ wegen unwirksamen oder gar schädlichen Medikamenten. Am Beispiel intrakraniale Stents wurde aufgezeigt, dass „lebensbedrohliche(n) Risiken für Patienten entstehen können“ (18).
Bereits 2019 kam das IQWIG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) bei seiner Analyse von 216 zu bewertenden Maßnahmen bei nur einem Viertel auf einen Zusatznutzen oder diese hatten sogar ein schlechteres Ergebnis. Dafür waren die Maßnahmen jedoch teurer. Ein wesentlicher Fehler ist dabei der Vergleich mit einer Placebo- statt Standardbehandlung oder einem ungeeignetem Medikament (19).
Die EU-Kommission plant eine Revision des Arzneimittelgesetzes. In einer Stellungnahme hat das IQWIG 2023 diesen Legislativvorschlag sehr kritisch bewertet. Danach werden u.a. „real world data“ derzeit verhindert, da in dem vorgeschlagenen „europäischen Gesundheitsdatenraum“ interventionelle RCT (randomisierte, kontrollierte Studien) ausgeschlossen werden (20). RCTs werden in der evidenzbasierten Medizin jedoch als wesentlich für die Qualitätssicherung angesehen.
Es existieren zahlreiche Missstände im Management der medikamentösen Versorgung. Die Missstände werden dabei immer größer und führen zu Teufelskreisen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Defizite bestehen bleiben, „normal“ werden und sich in Zukunft verschärfen.
Offene Fragen:
Wie können Medikamenten Engpässe zukünftig verhindert werden?
Wie kann zuverlässig verhindert werden, dass lebenswichtige Medikamente nur mit sehr hohen Aufwand verfügbar oder ersetzbar sind?
Wo bleibt der Schutz vor Schaden und Tod wegen unpassenden Verschreibungen sowie der Schutz vor inadäquaten Monitoring der Medikation für Ältere?
Wie können wir als Patienten zu geeigneten Informationen kommen um adäquate Entscheidungen zu treffen?
Wie können wir zu qualitativ guten Medikamenten/Behandlungen kommen?
Wie lässt sich verhindern, dass viel Geld für Medikamente ohne gesicherten Zusatznutzen oder sogar mit Schadenpotential ausgegeben wird?
Wer setzt sich für ressourcen-orientiertes Management der Versorgung der Medikamente ein?
Wie kann verhindert werden, dass die evidenzbasierte Medizin ad acta gelegt wird?
Tia Heuboden ist Diplom-Psychologin und Psychologische Psychotherapeutin. Sie schreibt unter Pseudonym.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder. Unterschiedliche Beiträge tragen zur Diskussion bei und sind deshalb für unsere Demokratie besonders wertvoll.
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Quellen:
Wie Lauterbach gegen die Medikamenten-Engpässe vorgehen will (Handelsblatt.com vom 05.04.2023)
Mangel auch bei Notfallmedikamenten (pharmazeutische-zeitung.de vom 08.05.23)
Zu viel des Guten: Wechselwirkungen von Medikamenten (deutschlandfunk.de vom 16.09.2014)
Wie die Medikation optimiert werden kann (pharmazeutische-zeitung.de vom 24.06.14)
Transition bei Genderdysphorie - wenn die Pubertät gestoppt wird (aerzteblatt 48/2022)
Produktion von Medikamenten - Das Schweigen der Pharmabranche (test.de vom 20.07.2022)
Lieferengpässe bei Arzneimitteln (KVB Forum 05/06 2023, S.6 und Wirtschaftswoche vom 26.5.23) https://www.wiwo.de/unternehmen/industrie/off-label-use-lieferengpass-bei-diabetesmedikament-wegen-social-media-hype/29170962.html
Tagesschau: Was Lauterbach gegen den Mangel plant (tagesschau.de vom 24.05.23)
Arzneimangel: Lauterbachs teurer Plan (zdf.de vom 05.04.2023)
Arzneimittelgesetz soll systemische Probleme lösen (aerzteblatt.de vom 25.05.23)
Kinderärzte befürchten gravierenden Medikamentenmangel im Herbst (aerzteblatt.de vom 02.05.23)
„Desaster für die Kinder“ (KVB Forum 05/06 2023, S.12)
Arzneimittelengpässe: Onkologen kritisieren Gesetzentwurf (univadis.de vom 18.04.23
Arzneimittellieferengpassgesetz: Zweifel an geplanten Maßnahmen (aerzteblatt.de 23/2023)
Arzneimittelengpässe: Kritik an geplanten Maßnahmen (aerzeteblatt.de vom 02.06.23)
Apotheker kritisieren „Sparwahn“ bei Arzneimittelversorgung (aerzteblatt.de vom 06.06.23)
Arzneimittelengpässe: Sachverständige zerpflücken Gesetzentwurf (aerzteblatt vom 13.06.23)
Deutliche Kritik an Verordnung zur Methodenbewertung: Gefahr für Patientensicherheit (aok-bv.de vom 04.06.20)
New Drugs: where did we go wrong and what can we do better? Wieseler B u.a. (2019) BMJ; 366, S. I4340
Brüssel Pläne gegen den Mangel, Tagesschau 26.04.23
Unsplash: Miriam Zillies
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